Pestizide: Wissenschaftler und Umweltbundesamt kritisieren Zulassung

Versprühen von Schädlingsbekämpfungsmitteln (Pestizide) mit dem Flugzeug auf einer Anbaufläche.
Pestizide werden durch ein Flugzeug versprüht
[Fotograf: unbekannt, Quelle: Bundesarchiv/ Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0 de, Kolorierung: Robert Züblin]
Robert Züblin – 04.11.2019, 21:08 Uhr

In einem Meinungsartikel kritisieren zwei Wissenschaftler die Zulassungspraxis von Pestiziden – wegen der ungeeigneten Umweltrisikobewertung würde es zum Rückgang der Artenvielfalt (Biodiversität) kommen. Das Umweltbundesamt hat sich der Kritik weitestgehend angeschlossen.

»Pestizide zentraler Faktor bei Artenvielfalt

Die Forscher Carsten Brühl und Johann Zaller, beides Experten auf dem Gebiet der Umweltwissenschaften, zeichnen ein düsteres Bild zu Anfang ihrer Ausführungen, die als Meinungsartikel in der Fachzeitschrift „Frontiers in Environmental Science“ veröffentlicht wurden.

Sie berichten von einem dramatischen Rückgang der Biodiversität, also der Artenvielfalt, in der Agrarlandschaft. „Ein Rückgang der Insektenbiomasse um mehr als 70 % in den letzten Jahrzehnten in Deutschland, die Halbierung der Ackerland-Vogelpopulationen in Europa und Auswirkungen auf Bestäuber sind allgemein bekannt“, schreiben die Wissenschaftler.

Es läge auch eine europaweite Studie vor, in der der Einsatz von Pestiziden ein Faktor sei, der für die niedrigere Artenvielfalt auf Weizenfeldern verantwortlich gemacht werde; konkret seien in diesem Zusammenhang Pflanzen, Laufkäfer und Vögel betroffen.

In einer weiteren Studie sei erst kürzlich die chemische Verschmutzung als zweitwichtigster Treiber in Bezug auf den Rückgang der Insektenpopulationen identifiziert worden. Zu den hierbei in Betracht gezogenen Chemikalien zählten auch die Pestizide.

Zusammengefasst sagen die Wissenschaftler: „In der wissenschaftlichen Gemeinschaft herrscht Einigkeit darüber, dass Pestizide ein zentraler Faktor für den beobachteten Rückgang der terrestrischen Biodiversität sind.“

Aus akzeptablem Risiko wird Sicherheit

Auf der Website der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) heißt es unter der Überschrift „Wie Europa sicherstellt, dass Pestizide sicher sind“: „Pestizide – oder Pflanzenschutzmittel – sind eine Realität der modernen Zeit. Diese Chemikalien müssen streng reguliert werden, um sicherzustellen, dass ihre Verwendung die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt nicht beeinträchtigt.“

Brühl und Zaller gehen in ihrem Artikel auch näher auf die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) ein, die im Rahmen des Zulassungsverfahrens von Pestiziden vorgenommen wird. Zur Umweltrisikobewertung würden Toxizitätsstudien durchgeführt und Berechnungen erfolgen, bei der die prognostizierten Expositionswerte berücksichtigt würden.

„Wenn das Risiko als akzeptabel erachtet wird, können Pestizide in Verkehr gebracht werden […]. Interessanterweise führt das ‚akzeptable Risiko‘ in diesem Schritt des Zulassungsprozesses dazu, dass Pestizide als ’sicher‘ für die Umwelt gelten […]“, schreiben die Wissenschaftler und beziehen sich dabei auf die Aussage auf der Webseite der EFSA, wonach Europa dafür sorge, dass Pestizide „sicher“ sind.

Wenn Landwirte die zugelassenen Pestizide verwenden würden, könnten sie also annehmen, dass diese Schädlingsbekämpfungsmittel „sichere“ Pestizide sind. In der Öffentlichkeit würden die Landwirte aber wegen des Pestizideinsatzes für den Rückgang der Biodiversität verantwortlich gemacht, beschreiben Brühl und Zaller das Problem.

„Es scheint, dass die UVP für die Pestizidregulierung, wie sie derzeit durchgeführt wird, ungeeignet ist, da sie nicht verhindern kann, dass zugelassene und allgemein verwendete Pestizide schädliche Auswirkungen auf unsere Umwelt haben“, so die Schlussfolgerung der beiden Experten.

Verbesserung der Pestizid-Zulassung

Brühl und Zaller benennen drei Aspekte, die bei der Zulassung von Pestiziden zu kurz kommen würden.

  • Verwendung mehrerer Pestizide: Bei der Pestizid-Zulassung würde nur ein Wirkstoff beziehungsweise ein bestimmtes Produkt geprüft. Das Problem sei aber, dass auf Äckern oder etwa Plantagen noch viele andere Pestizide zur Anwendung kommen würden, also nicht nur ein Wirkstoff oder ein einzelnes Pestizidprodukt.
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  • Nahrungsnetze: Im Rahmen der Zulassung von Pestiziden würden deren Auswirkungen auf die jeweiligen Organismen separat geprüft. Dabei bliebe unberücksichtigt, dass es auch zu Wechselwirkungen kommen könne. Wenn zum Beispiel ein bestimmtes Herbizid, also Unkrautbekämpfungsmittel, beim direkten Kontakt für Insekten unbedenklich sei, könne es am Ende trotzdem für die Insekten schädlich sein. Wenn die Insekten von den durch dieses Herbizid getöteten Pflanzen leben müssen, könnten sie durch den Rückgang der Nahrungsmenge beeinträchtigt sein, also indirekt geschädigt werden. Ein dadurch verursachter Rückgang der Insektenbiomasse könnte wiederum die Ernährungsgrundlage von Vögeln gefährden.
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  • Biodiversität auf dem Acker: In einer wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA heißt es: „Die biologische Vielfalt muss innerhalb der Anbauflächen bis zu einem gewissen Grad gefördert werden, damit wichtige Ökosystemleistungen erbracht werden können.“ Brühl und Zaller bemängeln aber, dass die entsprechende Richtlinie diesen Punkt nicht berücksichtige. Damit würde innerhalb der Äcker und vergleichbarer landwirtschaftlicher Flächen in Kauf genommen, dass es dort zu schädlichen Auswirkungen auf die Artenvielfalt komme. Allein in Deutschland würde die landwirtschaftliche Anbaufläche über 30 Prozent der Gesamtfläche ausmachen.

Abschließend sagen die Forscher: „Wenn wir weiterhin mit dem bestehenden UVP-System arbeiten, werden wir unserer Meinung nach auch künftig einen weiteren Rückgang vieler Gruppen von Organismen wie von Vögeln der Agrarlandschaft und von Insekten in der Agrarlandschaft beobachten.“

Als Sofortmaßnahme zur Erhaltung der Artenvielfalt schlagen die Autoren unter anderem vor, dass man den Pestizideinsatz reduzieren solle. Im Rahmen einer Studie sei geschätzt worden, dass teilweise eine Reduzierung der Pestizide um mehr als 40 Prozent möglich sei, ohne dass dies der Produktivität und Rentabilität der jeweiligen Anbaubetriebe geschadet hätte.

Umweltbundesamt stützt die Kritik

In Deutschland ist das Umweltbundesamt (UBA) im Rahmen des Zulassungsverfahrens von Pestiziden für die Umweltprüfung zuständig. Gegenüber „tal-mi-or“ hat das UBA gesagt:

„Die Analyse von Carsten Brühl und Johann Zaller trifft weitestgehend zu. Wesentliche Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf die Umwelt werden in den Zulassungsverfahren nicht berücksichtigt. Ein besonders gravierender Mangel ist, dass die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt und Nahrungsnetze in der Umweltrisikobewertung fehlen […].“

Auf die Frage, wie es sein könne, dass Pestizide von der EFSA als „sicher“ bezeichnet werden, die nach mehreren Studien in den Zusammenhang mit dem Rückgang der Artenvielfalt gebracht werden, sagt das UBA:

„In der Tat werden in den Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel wesentliche Auswirkungen und Risiken ignoriert. Mit der Zulassung eines Mittels kann deshalb leider nicht dessen Unbedenklichkeit für die Umwelt attestiert werden.“

Die EFSA hat auf die Bitte um Stellungnahme zu ihrer Äußerung, dass in der EU zugelassene Pestizide sicher seien, bislang nicht reagiert. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), das für die Zulassung von Pestiziden in Deutschland zuständig ist, hofft eine Antwort auf die Sicherheitsfrage von Pestiziden innerhalb von einer Woche geben zu können.

Urteil verhindert Pestizid-Beschränkung

Das Umweltbundesamt sagt gegenüber „tal-mi-or“ auch, wer für die aktuellen Zulassungsprobleme verantwortlich sei und wie sie gelöst werden könnten:

„Wesentliche Lücken in der Bewertung könnten geschlossen werden, wenn der politische Wille bestehen würde. Denn die EU-Zulassungsbewertung sieht eigentlich eine umfassende Risikobewertung vor, so auch die der Auswirkungen auf die biologische Vielfalt und Nahrungsnetze. Das Umweltbundesamt hat, um diese Lücke zu schließen, seit November 2018 begonnen, seine Zustimmung zur Zulassung von Mitteln mit Auswirkungen auf Nahrungsnetze an eine Maßnahme zur Risikominderung zu binden:

Wer ein solches Mittel anwenden möchte, muss zukünftig auf seiner Ackerfläche einen Mindestanteil an Refugialflächen bereitstellen, die Insekten und Vögeln als Ersatzlebensraum dienen und so die Auswirkungen des Mittels auf die biologische Vielfalt mindern.“

Das Problem sei nur, dass ein Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig dem UBA-Ansatz mit den Refugialflächen einen Riegel vorgeschoben hat. Zwar hätte das Gericht erkannt, dass die biologische Vielfalt gemäß EU-Recht im Zulassungsverfahren Berücksichtigung finden müsse. Mangels einer von der EFSA akzeptierten Bewertungsmethode dürften die deutschen Behörden die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt jedoch nicht bewerten.

„Der eigentlich vorgeschriebene Schutz der biologischen Vielfalt droht nun an diesem Urteil zu scheitern und es steht zunehmend in Frage, ob es gelingt, den Risiken des chemischen Pflanzenschutzes für die Umwelt ausreichend zu begegnen. Das BVL als Zulassungsstelle hat sich zum Bedauern des UBA geweigert, Berufung gegen dieses Urteil zu beantragen, um den Schutz der biologischen Vielfalt doch noch zu erreichen“, sagt das Umweltbundesamt gegenüber „tal-mi-or“.

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