COVID-19-Gefahr wird mit Zahlenspielerei verharmlost

Eine Frau schreibt sechs verschiedene Zahlen mit sechs Fingern gleichzeitig auf eine Tafel.
Zahlen mit sechs Fingern gleichzeitig schreiben
[Fotograf: Georg Pahl, Quelle: Bundesarchiv/ Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0 de, Kolorierung: Robert Züblin]
Robert Züblin | 26.02.2020 | 16:31 Uhr
KOLUMNE

 
Das neuartige Coronavirus sei doch harmloser als eine Grippe, so das gängige Narrativ bis jetzt. Diese Annahme ist nicht verwunderlich, da das Bundesgesundheitsministerium eine Zahlenspielerei betreibt, die ein völlig falsches Bild von der COVID-19-Gefahr zeichnet – die Tagesschau übernimmt dieses Zahlenspiel, und die Tagesthemen kürzen Regierungskritik sowie Richtigstellungen aus dem Beitrag eines Experten.

Ministerium und NDR vermischen Zahlen

Eine der größten Beruhigungspillen, mit denen das Bundesgesundheitsministerium in Bezug auf die Angst vor dem neuartigen Coronavirus hausieren geht, ist die angeblich so geringe Sterblichkeitsrate, die bei den bestätigten Fällen bei etwa 2 Prozent liegen solle.

Man kann die Sterblichkeit unterschiedlich berechnen. Die WHO hantiert im Moment mit zwei verschiedenen Zählweisen: der sogenannten CFR (case fatality ratio, auf Deutsch: Fall-Todesfall-Rate) und der IFR (infection fatality ratio, auf Deutsch: Infektions-Todesfall-Rate).

In die CFR werden nur die COVID-19-Todesfälle, die es unter den bestätigten Fällen zu beklagen gibt, in ein Verhältnis zu den insgesamt bestätigten Fällen von SARS-CoV-2-Infizierten gesetzt.

Bei der IFR werden alle COVID-19-Todesfälle in ein Verhältnis zu den insgesamt durch SARS-CoV-2-Infizierten gesetzt. Aber sowohl das Bundesgesundheitsministerium als auch die Tagesschau vermischen diese beiden Werte, was zu abstrusen Behauptungen führt:

„Derzeit liegt der Anteil der Todesfälle, bei denen die Erkrankung mittels Labortest bestätigt wurde, bei etwa 2 Prozent. Es ist aber wahrscheinlich, dass dieser Anteil tatsächlich geringer ist, weil sich die Daten auf Patienten beziehen, die im Krankenhaus behandelt wurden“, heißt es auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums.

Auf der Webseite der Tagesschau heißt es fast wortgleich, zumindest sinngemäß:

„Die Sterblichkeit bei den registrierten Fällen liegt bei rund zwei Prozent. Allerdings vermutet man, dass die Quote tatsächlich eher geringer ist, weil Fälle mit leichten Symptomen gar nicht erfasst sind.“

Wenn man sich für die CFR-Zählweise entscheidet, kann man sich auf die derzeit im Umlauf befindliche Zahl von circa 2 Prozent nicht verlassen, da es sich hierbei um keine abschließende Zahl handelt. Da noch nicht bekannt ist, wer von den bestätigten (beziehungsweise registrierten) Neu-Infizierten tatsächlich stirbt, müsste man die Todesfälle schätzen, um die Zahl der Toten in ein Verhältnis zur Anzahl der bestätigt Infizierten setzen zu können. Denn in den ins Feld geführten 2 Prozent Sterblichkeit sind diejenigen Toten, die erst noch sterben werden, noch nicht berücksichtigt. Daher sinkt eine aktuelle CFR auch nicht, sondern sie steigt bis zum Ende einer Epidemie beziehungsweise Pandemie. Insofern handelt es sich sowohl seitens des Bundesgesundheitsministeriums als auch seitens der Tagesschau um eine falsche Darstellung des Geschehens.

Was die Offiziellen vermutlich meinen, wenn sie sagen, dass der „Anteil“ oder die „Quote“ tatsächlich geringer ist, ist eine Bezugnahme auf die IFR-Quote, also den Anteil der Todesfälle an den Infizierten insgesamt, wozu auch die nicht erfassten Fälle gehören. Hier liegen die Schätzungen der von der WHO ins Feld geführten Studien zwischen 0,3 Prozent und 1 Prozent. Aber auch hier können noch keine abschließenden Zahlen vorgelegt werden, da dazu populationsbasierte serologische Studien notwendig wären, wie die WHO schreibt.

Die niedrige IFR-Quote führt die Bürger im Übrigen in die Irre, weil die tatsächlich Infizierten – jedenfalls im Moment – nur geschätzt werden können und diese Schätzungen selten Eingang in die Medienberichterstattung finden oder von den Behörden kommuniziert werden. Vor allem aber liegt die Zahl der tatsächlich Infizierten weit über der Zahl der bestätigten Fälle, wodurch ein ganz anderes Risikobewusstsein entsteht.

Wenn man nun beide Quoten, also die CFR und die IFR, miteinander vermischt, so wie es das Bundesgesundheitsministerium und die Tagesschau tun, dann führt das zu einer völligen Verharmlosung der Lage. Denn die von Forschern durch eine Modellrechnung geschätzte CFR, die auch die zukünftigen Todesfälle unter den bestätigten Infizierten berücksichtigt, liegt derzeit bei circa 7 Prozent für ganz China und damit ohnehin schon über den von Ministerium und Tagesschau verbreiteten 2 Prozent. Und dann sollen sich die 2 Prozent auch noch reduzieren? Eine Bitte um Stellungnahme blieb sowohl vom NDR als auch vom Bundesgesundheitsministerium unbeantwortet.

Richtigstellung aus Interview entfernt

Als der Virologe Prof. Dr. Alexander Kekulé den Tagesthemen am 24. Februar 2020 ein Interview gibt, wird die Richtigstellung der ministeriellen Zahlenspielerei einfach rausgeschnitten. Auf Nachfrage beim NDR, was der Grund dafür gewesen sei, sagte man gegenüber tal-mi-or, dass die Sendung wegen weiterer aktueller „Themen wie dem Vorfall in Volkmarsen und der Entwicklung in der CDU an mehreren Stellen“ gekürzt werden musste.

Die herausgeschnittenen Stellen wurden zumindest in Textform – teilweise entstellt – auf der Webseite der Tagesschau veröffentlicht, wonach Kekulé gesagt habe, der neuartige Coronavirus „ist auf jeden Fall gefährlicher als die Grippe – da widerspreche ich auch ganz klar den Gesundheitsbehörden in Deutschland.“

Außerdem gab er gegenüber den Tagesthemen die korrekten Schätzungen zur Sterblichkeitsrate bei COVID-19 an, wobei diese unverständlich auf der Tagesschau-Webseite dargestellt werden, wenn es dort seitens der Redaktion heißt: „Die Sterblichkeitsquote [bei COVID-19] liege bei 0,5 bis einem Prozent. Bei Grippe nur bei einem Promille.“

Im Interview mit dem Deutschlandfunk sind die Aussagen von Kekulé unverfälscht nachlesbar:

„Er [Bundesgesundheitsminister Jens Spahn] hat ihn [den Ernst der Lage] auf keinen Fall früh genug erkannt, das muss man, glaube ich, jetzt schon sagen. Vor allem ist es so, dass seine Behörden ja immer noch das Coronavirus harmloser als die Grippe darstellen. Da muss man zurechtrücken. Natürlich ist es so, dass die Grippe in mancher Saison in Deutschland mehrere Tausend – es gab sogar mal einen Fall, wo es über 20.000 Tote verursacht. Ja, das macht die Grippe, aber man muss das immer ins Verhältnis stellen.

Wir haben in Deutschland natürlich auch über zehn Millionen Infizierte gehabt in dem Jahr, wo es mal so hoch war. Wenn Sie das dann runterrechnen, ist die Sterblichkeit der Grippe bei 0,1 Prozent oder eins zu 1.000, und zwar maximal eins zu 1.000, und die Sterblichkeit von diesem Coronavirus liegt bei 0,5 bis 1,5 Prozent, irgendwo in dem Bereich, das heißt, ich sag mal so grob eins zu 100. Das heißt, das Virus ist für denjenigen, der die Infektion bekommt, zehnmal gefährlicher.“

Anders als das Bundesgesundheitsministerium und die Tagesschau vergleicht Kekulé hier die IFR der Grippe mit der IFR vom neuartigen Coronavirus, also so, wie es einen Sinn macht und so, dass man sich eine klare Vorstellung von der Gefährlichkeit einer SARS-CoV-2-Infektion machen kann.

Auch eine Bild-Expertin verharmlost

In einem Interview, das Bild.de mit der ärztlichen Leiterin für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention Dr. Susanne Wenner-Ziegler geführt hat, behauptet die Expertin, dass es sich bei SARS-CoV-2 um „kein gefährliches Virus“ handele und stellt COVID-19 im Vergleich zur Grippe ebenfalls als harmloser dar:

„Nach allem was wir zum aktuellen Zeitpunkt wissen, ist der Coronavirus offensichtlich, oder das Coronavirus offensichtlich schon relativ ansteckend, führt aber in der weitaus größten Zahl der Infizierten zu milden Symptomen. Das kann man von der richtigen Influenza eigentlich nicht sagen.“

Wenner-Ziegler wagt sich in Bezug auf COVID-19 sogar so weit vor, zu sagen:

„Die wenigen Fälle, die mittlerweile in Europa, in Nord-Europa, aufgetreten sind, sind ganz mild gewesen, manche sprechen sogar von, das war ein besserer Schnupfen, so dass wir gar nicht, auf keinen Fall davon sprechen können, dass wir eine große Sterblichkeit haben, oder eine große Chance schwer zu erkranken. Es gibt natürlich vorerkrankte Patienten, die bei allen Atemwegsinfekten ein größeres Risiko haben, eine Verschlechterung ihres Krankheitsbildes davon zu tragen, aber für die normale Bevölkerung scheint das nach dem, was wir wissen, nicht besonders.“

In Bezug auf die absoluten Zahlen trifft die Aussage zur Sterblichkeit auf Nord-Europa derzeit zu, aber diese Aussage trifft nicht auf die Wahrscheinlichkeit zu, an dem neuartigen Coronavirus zu sterben, wenn man einmal infiziert ist, im Vergleich zum selben Szenario bei der Grippe, wie man an der geschätzten Sterblichkeitsrate bei den insgesamt Infizierten von um die 1 Prozent erkennen kann, die bei der Grippe laut dem Virologen Kekulé bei lediglich 0,1 Prozent liegt.

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