Auch 30 Jahre nach Mauerfall: die DDR war ein Unrechtsstaat

Erich Honecker und andere Staatschefs des Ostblocks feiern den 40. Jahrestag seit der Gründung der DDR im Rahmen einer Parade.
Der DDR-Unrechtsstaat feiert 40-jähriges Jubiläum
[Fotograf: Klaus Franke, Quelle: Bundesarchiv/ Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0 de]
Robert Züblin – 09.11.2019, 19:21 Uhr
KOLUMNE

 
Man mag es kaum glauben, dass 30 Jahre nach Mauerfall noch darüber diskutiert wird, ob es sich bei der DDR um einen Unrechtsstaat gehandelt hat.

»Systematische Vernichtung Andersdenkender

Wie die Bild-Zeitung berichtet, soll der Justizminister von Brandenburg, Stefan Ludwig (Linke), auf der Justizministerkonferenz gesagt haben, dass die DDR kein „Unrechtsstaat“ gewesen sei. Seine Begründung: Ein solcher Staat würde sich durch die „systematische Vernichtung von Andersdenkenden“ auszeichnen. In der DDR sei das aber „nicht der Fall“ gewesen.

Die Äußerung Ludwigs soll im Zusammenhang mit der Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärung der Justizminister zum Mauerfall am 9. November 1989 erfolgt sein, in der es unter anderem heißt: „Der Sehnsucht nach Freiheit und demokratischer Mitbestimmung hatte der Unrechtsstaat der DDR im Herbst 1989 nichts mehr entgegenzusetzen.“

„Wir haben dagegen gestimmt“, soll ein Pressesprecher von Ludwig gegenüber den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ gesagt haben. Weiter habe er sich zum Sachverhalt nicht äußern wollen, da es sich um eine geschlossene Sitzung gehandelt habe.

Die Justizsenatoren aus Hamburg (Grüne), Bremen (SPD) und Berlin (Grüne) sollen sich bei der Abstimmung enthalten haben.

Stasi war für Zersetzung zuständig

In den Anfangsjahren der DDR wurden oppositionelle Kräfte noch mit Methoden des Strafrechtes bekämpft. Nach dem Mauerbau im Jahr 1961 hat sich das geändert.

„Galt es nun politischen Widerstand zu brechen, wurde diese Aufgabe vorrangig dem MfS [Ministerium für Staatssicherheit] zugewiesen und damit einem Sanktionssystem unterhalb strafrechtlicher Reaktion zugeteilt“, wie der Jurist Rainer Schröder schreibt.

Wer abstreitet, dass es sich bei der DDR um einen Unrechtsstaat gehandelt hat, ignoriert, dass das Sanktionsregime gegenüber Andersdenkenden von der Bildoberfläche verschwand und im Verborgenen weiter betrieben wurde – auch unter Umgehung des Strafrechts. Auf Wikipedia heißt es dazu, dass die DDR damals um internationale Anerkennung rang, sich deswegen zur Achtung der Menschenrechte verpflichtete und die Reduzierung der politischen Häftlinge „durch Repressionspraktiken unterhalb der Schwelle von Verhaftung und Verurteilung“ kompensieren musste.

Wie perfide die Stasi vorgegangen ist, um Sanktionen außerhalb des Strafrechts durchzusetzen, zeigt ein Leitfaden für Zersetzungsmethoden, der ab 1976 als Richtlinie in Kraft trat. Im Grunde ist es ein Handbuch zur Bekämpfung des politischen Gegners mit Hilfe von inoffiziellen Mitarbeitern (IMs), wobei die Ausführungen zu den anzuwendenden Zersetzungsmaßnahmen nur ein paar Seiten umfassen. Diese sogenannte „Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)“ ist heute frei zugänglich im Internet verfügbar.

Die Richtlinie sollte unter anderem dann geheimpolizeiliche Maßnahmen der Stasi und ihrer inoffiziellen Mitarbeiter auslösen, wenn „in der Bearbeitung Operativer Vorgänge die erforderlichen Beweise für das Vorliegen eines Staatsverbrechens oder einer anderen Straftat erarbeitet wurden und der jeweilige Operative Vorgang aus politischen und politisch-operativen Gründen im Interesse der Realisierung eines höheren gesellschaftlichen Nutzens nicht mit strafrechtlichen Maßnahmen abgeschlossen werden […]“ sollte.

Nach Ermittlungen im Umfeld der betreffenden Person sollen dann Maßnahmepläne von den Mitarbeitern der Stasi angefertigt worden sein. Eine dieser Maßnahmen konnte auch das Ziel der „Zersetzung“ gehabt haben, wie es in einem Vermerk des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) heißt.

„Indem beispielsweise unzutreffende Gerüchte gestreut wurden, sollte etwa das Selbstvertrauen einer Person zerstört oder der Betreffende in den Augen seines Umfeldes diskreditiert werden. Zersetzungsmaßnahmen kamen vor allem dann zur Anwendung, wenn eine Verhaftung aus politischen Gründen nicht opportun erschien“, beschreibt der BStU die Stasi-Methoden zusammenfassend.

Auszug aus der Richtlinie Nr. 1/76 (Zersetzungsmaßnahmen-Beispiele):

„Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind:

– systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben;
 
– systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen;
 
– zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive;
 
– Erzeugen von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen;
 
– Erzeugen bzw. Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder;
 
– Beschäftigung von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen mit ihren internen Problemen mit dem Ziel der Einschränkung ihrer feindlich-negativen Handlungen;
 
– örtliches und zeitliches Unterbinden bzw. Einschränken der gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation auf der Grundlage geltender gesetzlicher Bestimmungen, z. B. durch Arbeitsplatzbindungen, Zuweisung örtlich entfernt liegender Arbeitsplätze usw.
 
Bei der Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen sind vorrangig zuverlässige, bewährte, für die Lösung dieser Aufgaben geeignete IM einzusetzen.“

 

Im Unrechtsstaat war Mut gefragt

Nicht jeder IM war aus Sicht der Stasi für die Zersetzungs-Tätigkeit geeignet, wie man aus der Richtlinie Nr. 1/76 erfährt. Vielmehr waren „hohe Anforderungen“ an die IM zu stellen, wenn sie im Rahmen der Richtlinie tätig werden sollten. Unter anderem mussten sie sich durch „Mut, Standhaftigkeit, Einsatzbereitschaft, Treue und feste Bindungen an das MfS auszeichnen, um die Aufgaben der Feindbekämpfung erfolgreich zu lösen und gegenüber feindlich-negativen Einflüssen gewappnet zu sein;“

Vor diesem Hintergrund ist es verwirrend, wenn Angela Merkel im Spiegel-Interview 30 Jahre nach Mauerfall den Mut der DDR-Bürger derart herausstreicht, als ob Mut eine positive Eigenschaft an und für sich wäre: „Aber die friedliche Revolution und der 9. November 1989 waren das Werk der DDR-Bürger. Davon geben wir gerne was ab, auch die Freude, aber geschafft haben das die DDR-Bürger mit einer ganzen Menge Mut. Und da ich weiß, dass in Westdeutschland damals nicht nur Mutbolzen lebten – ich erinnere mich, wie es manchen schon zu viel wurde, wenn sie mal für uns ein Buch über die Grenze schmuggeln sollten – könnte man das sicher mehr würdigen.“

Aber ohnehin ist nicht nachvollziehbar, wie Frau Merkel eine derart steile Polit-Karriere im vereinten Deutschland machen konnte. Es ist vielmehr ein Trauerspiel für den Nachwende-Rechtsstaat, dass eine Linientreue wie Angela Merkel, die für das SED-Unrechtsregime als „Sekretärin für Agitation und Propaganda“ tätig gewesen sein soll – Merkel bestreitet das irgendwie -, seit nunmehr fast 14 Jahren Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein darf. Wieso wurden im vereinten Deutschland nur Personen mit Stasi-Vergangenheit an der Ausübung öffentlicher Ämter gehindert und nicht auch SED-Funktionäre beziehungsweise solche, die auf dem besten Weg dorthin waren?

Durch die Privilegierung von politisch aktiven Unterstützern des DDR-Unrechtsstaates gegenüber den Stasisten, die als Vollstrecker aktiv waren, wird die Einheit der Rechtsordnung verletzt und damit ein rechtsstaatliches Grundgebot.

Menschenrechte