AOK-Chef leidet an Realitätsverlust: »Warten auf Facharzt-Termin nicht schlimm

AOK versucht kritischen Journalisten zu „kaufen“

Von Robert Züblin – Aktualisiert am 04.01.2019, 23:32 Uhr
 

Endlich hat die Politik das Problem der langen Wartezeiten auf einen Facharzttermin aufgegriffen, da streut der Chef der AOK Zweifel, ob das Problem der langen Wartezeiten für einen Termin beim Facharzt in Deutschland überhaupt so groß wäre.

Der Chef der AOK Martin Litsch behauptet, dass die langen Wartezeiten für Facharzttermine nicht schlimm seien, wenn es im Knie nur ein bisschen zieht.

AOK-Chef Martin Litsch
[Foto: AOK-Mediendienst]

 

Bundesgesundheitsminister Spahn beabsichtigt mit einem neuen Terminservice- und Versorgungsgesetz, dass Patienten schneller einen Termin bei einem Facharzt erhalten als bislang üblich.

Ganze 27 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten warteten bis zu oder länger als drei Wochen auf einen Arzttermin, wie eine Umfrage bei den Patienten durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung ergab.

Drei Monate Wartezeit sind nicht schlimm?

Gegenüber der Bild-Zeitung hat der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, am 27. Dezember 2018 gesagt:

Übrigens würde ich auch mal die Frage stellen, ob das Problem mit den Terminen wirklich so groß ist, wie es gemacht wird. Wenn es im Knie ein bisschen zieht, oder es nichts Akutes gibt, finde ich es nicht schlimm, wenn man auf einen Facharzt-Termin auch mal warten muss.

Im Jahr 2018 betrug in Berlin die Wartezeit für eine Magenspiegelung beim Gastrologen in akuten Fällen, die keinen Dringlichkeitscode vorweisen konnten, zeitweise circa drei Monate, mit Unterstützung der Terminvergabestelle der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (Terminservicestelle). Machte man sich selbst auf die Suche nach einem Termin, hieß es mitunter sogar, es herrsche ein Aufnahmestopp von neuen Patienten, da man keine Kapazitäten mehr habe.

Das Gesetz schreibt heute schon vor, dass die Terminvergabestelle der Kassenärztlichen Vereinigungen in dringenden Fällen einen Termin innerhalb von vier Wochen vermitteln müssen.

Ein dringender Fall wird – jedenfalls von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin – aber nur angenommen, wenn auf der Überweisung zum Facharzt ein sogenannter Dringlichkeitscode vom überweisenden Arzt geklebt wurde. In Berlin wartete man im Jahr 2018 in solch dringenden Fällen mit entsprechendem Code zeitweise fast die vollen vier Wochen, wenn es um eine Magenspiegelung ging. Da viele Patienten gar nicht wissen, dass sie in dringenden Fällen Anspruch auf die Vermittlung eines Facharzttermins über die Kassenärztliche Vereinigung haben, bleibt ihnen nur, Monate auf einen Termin zu warten oder verzweifelt aufzugeben.

 
 

Die Aussage von Martin Litsch gegenüber der Bild-Zeitung, dass man sich fragen sollte, ob das Problem mit den Wartezeiten überhaupt so groß sei, kann also nur als Realitätsverlust gewertet werden. Das belegen in der Masse neben den Patientenbefragungen der Kassenärztlichen Vereinigung, wonach Wartezeiten von bis zu drei und mehr Wochen für 27 Prozent der Kassenpatienten zum Normalfall geworden sind, auch jüngste Untersuchungen der Stiftung Warentest. Danach hieße es bei den Terminvergabestellen regelmäßig, dass dort mit durchschnittlich zwei Wochen Wartezeit gerechnet werden muss. Das können dann rein rechnerisch genauso viele Termine sein, die erst nach drei Wochen stattfinden wie innerhalb von einer Woche.

Fast die Hälfte der Terminservicestellen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen der unterschiedlichen Bundesländer erfasst aber die durchschnittlichen Wartezeiten nicht, weshalb die Frage von Herrn Litsch nicht lauten sollte, ob das Facharzttermin-Problem besteht, sondern warum dem Problem statistisch nicht auf den Grund gegangen wird.
 
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Auch vier Wochen sind nicht zumutbar

Wenn sich die Kassenärztliche Vereinigung Berlin – angesprochen auf die langen Wartezeiten – darauf beruft, dass ein Terminservice angeboten würde, kann dem nur entgegnet werden, dass selbst Facharzttermine nach drei oder vier Wochen, die sich also innerhalb der Vier-Wochen-Frist befinden, nicht zumutbar sind, wenn es sich um dringende Fälle handelt. Denn nicht selten müssen Symptome von mehreren Fachärzten abgeklärt werden, oder man muss mehrmals zum selben Facharzt – etwa um die Dosierung der Medikamente richtig einzustellen. Wenn man jedes mal drei bis vier Wochen warten muss, bis man einen Termin bekommt, summiert sich das Ganze schnell auf mehrere Monate Behandlung – und zwar völlig unnötiger Weise.

Angestellte riskieren bei mehrmonatigem krankheitsbedingtem Ausscheiden in das Krankengeld zu fallen und somit erhebliche Einkommenseinbußen zu erleiden – Selbstständigen ohne Krankengeldanspruch bleibt unter Umständen nur noch Hartz IV.

Sonderbehandlung für Journalisten

Fragt man als Journalist nach, was es mit den langen Wartezeiten bei den Fachärzten auf sich hat, bekommt man von der Pressestelle der AOK Nordost folgende Antwort:

Sollte Ihnen ein konkreter Fall eines Versicherten der AOK Nordost mit einem aktuellen Unterstützungsbedarf bei der Vermittlung eines Facharzttermins vorliegen, bieten wir gerne unsere Unterstützung an. Bitte senden Sie uns diesem Fall die Kontaktdaten des Versicherten, damit wir einen Kontakt zu unseren Fachbereich und eine entsprechende Hilfestellung vermitteln können.

Dies kann nur als Versuch verstanden werden, einen betroffenen Journalisten durch eine Sonderbehandlung zufriedenzustellen und damit mundtot zu machen. Denn eigentlich vermittelt die AOK Nordost keine Facharzttermine – jedenfalls nicht an normalsterbliche Versicherte –, was die Antwort auf eine Anfrage beim Kundenservice der AOK Nordost verrät:

Leider steht der Arztterminservice nicht mehr zur Verfügung. Der Grund dafür: Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin bietet eine Terminservicestelle für die Vermittlung von Facharztterminen an.

Kein Recht auf Krankenhausbehandlung?

AOK-Chef Litsch behauptete außerdem in der Bild-Zeitung, es gäbe Überkapazitäten in den Krankenhäusern. Ein Viertel davon könne sogar geschlossen werden, ohne einen Versorgungsnotstand auszulösen, so die Worte von Litsch. Man könnte jetzt denken, dass es doch sinnvoll wäre, wenn Patienten, die einen Facharzt-Termin bräuchten, einfach in ein Krankenhaus gingen. Erkundigt man sich auf der Webseite der AOK über den Ablauf einer Krankenhausbehandlung, erscheint die Ausweich-Möglichkeit Krankenhaus gar nicht mehr einfach.

Die AOK informiert über den Ablauf und die Voraussetzungen für eine Krankenhausbehandlung.

So informiert die AOK ihre Versicherten zum Thema Krankenhausbehandlung
[Screenshot von aok.de durch Robert Züblin am 4.1.2019]

Die AOK behauptet auf ihrer Webseite, dass man sich nur als akuter Notfall ohne Verordnung eines Vertragsarztes in einem Krankenhaus stationär untersuchen und behandeln lassen kann. Damit spricht die AOK denjenigen Versicherten, die akute Beschwerden haben, ohne Notfälle zu sein, das Recht ab, sich selbst in ein Krankenhaus einzuweisen, um sich dort untersuchen zu lassen.

Das Bundessozialgericht hatte hingegen bereits mit Urteil vom 19.6.2018 gegen die AOK Niedersachsen entschieden (Geschäftszeichen: B 1 KR 26/17 R), dass sich Patienten grundsätzlich auch selbst in ein Krankenhaus einweisen können, also in der Regel keine Verordnung eines niedergelassenen Vertragsarztes benötigen.

„Der Anspruch Versicherter auf Krankenhausbehandlung und damit der Vergütungsanspruch des Krankenhauses hängt nicht formal von einer vorherigen vertragsärztlichen Verordnung ab, sondern davon, dass Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit besteht“, begründen die Kasseler Richter ihre Entscheidung. Würde man jeden Krankenhausbesuch von einer Genehmigung eines Vertragsarztes abhängig machen, seien Versorgungsmängel zu befürchten. Dem vermeintlichen Monopol der kassenärztlichen Versorgung auf ambulantem Gebiet hat das Gericht also klare Grenzen aufgezeigt.

 
 

Krankenhäuser gegen Termindruck

Anstatt also die Nutzung von freien Kapazitäten in Krankenhäusern zu fördern, steht zu befürchten, dass die AOK durch ihre Informationspolitik genau das Gegenteil erreicht. Denn Akut-Patienten, die keine Notfälle sind, könnten mangels besseren Wissens den direkten Weg ins Krankenhaus scheuen und stattdessen den langwierigen Weg über die niedergelassenen Fachärzte gehen.

Von Hausärzten kann eine Krankenhauseinweisung ohnehin nur in Notfällen erwartet werden. Der Hausarzt Dominik Pütz erklärt seinen Patienten, dass er zum Beispiel niemals eine Krankenhaus-Einweisung wegen einer Magenspiegelung ausstellen würde, da er befürchte, wegen einer fehlerhaften Einschätzung selbst für die Krankenhausbehandlung von der Krankenkasse in Anspruch genommen zu werden. Allein Fachärzte könnten die Prüf-Vorgaben aus der einschlägigen Krankenhauseinweisungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses erfüllen, wonach stets alle ambulanten Möglichkeiten ausgeschöpft sein müssten, bevor jemand in ein Krankenhaus eingewiesen werden dürfe.

Der dahinter stehende Grundsatz „ambulant vor stationär“ würde sich jedoch längst auflösen, sagt der Ärzteverband Hartmann-Bund und sieht diese Entwicklung durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts bestätigt. Allerdings könnte diese Bewertung auch von dem zu entscheidenden Fall beeinflusst worden sein, der eine teilstationäre Leistung zum Gegenstand hatte. Der Begriff teilstationär war schon immer verschwommen.

„Teilstationäre Leistungen sind ambulante Leistungen – auch wenn die Bezeichnung etwas anderes suggeriert“, sagt der GKV-Spitzenverband, eine Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Der Gesetzgeber habe sich quasi eines terminologischen Tricks bedient, womit Krankenhäusern ermöglicht werden sollte, ambulante Leistungen zu erbringen, ohne das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigungen in Frage zu stellen.

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist aber nicht auf teilstationäre Behandlungen beschränkt, sondern lässt sich auch auf stationäre Fälle übertragen.

Der Hartmann-Bund begründet das Aufweichen des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ mit der Versorgungsrealität. Die Ärzte Zeitung sieht das Hauptproblem in den Kliniken bei den Selbsteinweisern, die auf einen Anteil von 30 bis 40 Prozent kommen würden. Besonders deutlich würde das Phänomen der Selbsteinweisung an den überlaufenen Notfallambulanzen.

Allerdings handele es sich dabei um eine „weitgehend unerwünschte Realität“, für deren Bekämpfung „sehr aufwändige Modelle“ diskutiert würden, durch die „die Steuerung der Patienten an der Schnittstelle zwischen vertragsärztlichem Notfalldienst und Notfallambulanzen in Kliniken“ verbessert werden solle. Die Ärztezeitung fragt sich daher: „Werden mit dem Kasseler Urteil alle diese Überlegungen nun mit einem Schlag hinfällig? Denn ein Patient, der auf Selbsteinweisung aus ist, muss an der Krankenhauspforte nur sagen: ‚Ich bin kein Notfall, ich bin einfach so vorbeigekommen, um mich bei Ihnen behandeln zu lassen.'“

In dem Urteil des Bundessozialgerichts heißt es dazu: „Ein zugelassenes Krankenhaus darf aber auch Versicherte, die sich mit einer Akutsymptomatik vorstellen, ohne dass ein klarer Notfall vorliegt, und die keine vertragsärztliche Verordnung von Krankenhausbehandlung haben, nicht einfach ohne Untersuchung wegschicken und auf vertragsärztliche Behandlung verweisen. Stellt es bei der Untersuchung fest, dass Krankenhausbehandlung erforderlich ist, soll und darf es den Versicherten behandeln, ohne noch eine vertragsärztliche Verordnung abwarten zu müssen.“

Die Überkapazitäten der Krankenhäuser könnten also zumindest für diagnostische Zwecke genutzt werden und damit helfen, das Defizit an Facharztterminen abzubauen. Ob die Krankenhäuser an die Untersuchung eine Behandlung anschließen dürfen, hinge dann vom jeweiligen Untersuchungsergebnis ab. Denn nach wie vor gilt der Grundsatz, dass eine Krankenhausbehandlung erforderlich und wirtschaftlich sein muss, was nicht der Fall ist, wenn dieselbe Behandlung durch einen Vertragsarzt geleistet werden könnte.